Kunterbunter Spiegel
Integrative Jugendarbeit mit geistig behinderten und nichtbehinderten Jugendlichen

Ein Mädchen rennt auf mich zu, umarmt mich, strahlt mich an. Ich sehe sie nur alle fünf Wochen und doch behandelt sie mich wie ihren besten Freund. Aber so behandelt sie nicht nur mich, sondern auch alle anderen Mitarbeiter. Sie nimmt uns so wie wir sind und man spürt, sie meint es ehrlich.
Seit dreieinhalb Jahren treffen wir uns mit geistig behinderten Jugendlichen im Alter zwischen etwa 15 bis 22 Jahren und unternehmen einen ganzen Samstag etwas gemeinsam.

Wer sind wir?
"Wir", das sind Jugendmitarbeiter der Lukaskirche von Ulm am Eselsberg, Konfirmanden und andere interessierte Jugendliche aus Ulm.
"Wir", das sind natürlich auch kunterbunt zusammengewürfelte Jugendliche mit einer geistigen Behinderung aus dem Großraum Ulm. Einige von uns arbeiten in einer Werkstatt, andere gehen auf die Gustav-Werner-Schule oder in die Bodelschwingh-Schule.
"Wir" sind ausschließlich ehrenamtlich aktiv. Es gibt keine professionelle Leitung der Gruppe.

Der Name "Kunterbunter Spiegel"
Ausflugsfoto Die Unternehmungen starten in der Regel im Café Spiegel. Während hier jeden Freitagabend ein offener Café-Betrieb für die Jugendlichen am Eselsberg stattfindet, ist das Café Spiegel am Samstag auch Treffpunkt für die integrative Arbeit. Was dann dort geboten wird, ist ein "kunterbuntes" Programm: Wir basteln etwas, gehen zum Baden oder ins Kino, besuchen den Augsburger Zoo oder grillen gemeinsam auf der Alb. Normalerweise treffen wir uns etwa alle fünf Wochen an der Lukaskirche um 10 Uhr und sind dann bis um 18 Uhr wieder von unseren Unternehmungen zurück. Einmal im Jahr fahren wir auch weiter weg, übernachten von Samstag auf Sonntag und kommen erst am nächsten Tag wieder zurück. So waren wir in München, in Ingolstadt (das Photo wurde vor dem Spielzeugmuseum aufgenommen) oder dieses Jahr im Juni in Bad Urach.

Sich kennen lernen
Die nichtbehinderten Teilnehmer und Mitarbeiter lernen durch Spiele und gemeinsame Unternehmungen einen natürlichen Umgang mit geistig behinderten Jugendlichen und bauen so Berührungsängste ab. Um die Belastung, besonders von Jugendlichen, die bisher keine Erfahrung mit Behinderten gemacht haben, gering zu halten, teilt sich die Gruppe, die zur Zeit etwa 20 Jugendliche umfasst, zu gleichen Teilen in Behinderte und Nichtbehinderte auf. Auch wenn wir uns regelmäßig treffen und sich der "Harte Kern" im Lauf der Zeit gut kennen gelernt hat, besteht keine Teilnahmepflicht. Jeder interessierte Jugendliche hat die Möglichkeit einmal "hineinzuschnuppern", jeder kann sich die Zeit nehmen, langsam zu lernen mit seinen Berührungsängsten umzugehen. Die Gruppenform und die Regelmäßigkeit ermöglichen es den Nichtbehinderten, "den" Behinderten nicht nur pauschal zu betrachten, sondern auch seine individuellen Fähigkeiten, Schwächen, Vorlieben und Abneigungen kennen zu lernen und damit auch zu begreifen, dass der Unterschied zwischen dem Behinderten und Nichtbehinderten eigentlich gar nicht so groß ist. Mancher nichtbehinderte Jugendliche wird erkennen, dass er hier gebraucht wird, und dass auch bei ihm Fähigkeiten gefragt sind, von denen er vielleicht bisher keine Ahnung hatte.

Integration des Behinderten
Dem geistig Behinderten wird durch das eintägige Zusammensein mit Nichtbehinderten ein Einblick in die "Welt der nichtbehinderten, gleichaltrigen Jugendlichen" ermöglicht. Hier können sie erkennen, wenn Verhaltensweisen, die sie sich in Schulalltag und Wohngruppen angeeignet haben, von Nichtbehinderten als unnatürlich oder"asozial" empfunden werden. Nur dadurch kann es dem Behinderten später gelingen, sich in der Gesellschaft zurecht zu finden und nicht bereits beim ersten Kontakt mit anderen Menschen als "Behinderter" im negativen Sinn abgestempelt zu werden. Im Rahmen des "Kunterbunten Spiegels" kann er Dinge unternehmen, für die seine Eltern kein Interesse mehr besitzen, die Jugendlichen aber Spaß machen.

Die Eltern werden durch den freien Samstag entlastet, so dass sie ihn zum Einkaufen oder für eigene Unternehmungen nutzen können, ohne dass sie Rücksicht auf ihr Kind nehmen müssen. Das erfordert aber natürlich auch, dass die Eltern ihr wohlbehütetes Kind für einen Tag loslassen.

Der Blinde und der Lahme

Von ungefähr muß einen Blinden
Ein Lahmer auf der Straße finden,
Und jener hofft schon freudevoll,
Daß ihn der andre leiten soll.

Dir, spricht der Lahme, beizustehen?
Ich armer Mann kann selbst nicht gehen;
Doch scheint's, daß du zu deiner Last
Noch sehr gesunde Schultern hast.

Entschließe dich, mich fortzutragen,
So will ich dir die Stege sagen:
So wird dein starker Fuß mein Bein,
Mein helles Auge deines sein.

Der Lahme hängt mit seinen Krücken
Sich auf des Blinden breiten Rücken.
Vereint wirkt also dieses Paar,
Was einzeln keinem möglich war.

Du hast das nicht, was andre haben,
Und andre mangeln deine Gaben;
Aus dieser Unvollkommenheit
Entspringet die Geselligkeit.

Wenn jenem nicht die Gabe fehlte,
die die Natur für mich erwählte,
so würd' er nur für sich allein
Und nicht für mich bekümmert sein.

Christian Fürchtegott Gellert (1715 - 1769)

Wir alle genießen einen solchen Tag. Mit Behinderten lernt man die Langsamkeit neu. Vielleicht war es das eine mal anstrengend, aber die meiste Zeit konnten wir uns unterhalten oder einfach nur das Wetter genießen.

"Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen."
Das Mädchen, das ich am Anfang erwähnte, ist so ein Kind. Aber sie ist schon 20 Jahre alt. Vielleicht kann sie mir deshalb besonders gut zeigen, was es heißt, noch Kind zu sein. Wir treffen uns nicht um zu helfen, sondern um voneinander zu lernen.

Ansprechpartner
Thomas Müller
thomas.mueller@lukaskirche-ulm.de
www.lukaskirche-ulm.de

Bild:privat