Der Stein, den ich nie geworfen habe
Richtet nicht ...

,"Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet... Was blickst du auf den Splitter im Auge deines Bruders, aber bedenkst nicht den Balken im eigenen Auge?
Oder, was sprichst du zu deinem Bruder. Lass, ich will dir den Splitter aus dem Auge ziehen! Und siehe in deinem Auge ist der Balken? Du Heuchler... "

(aus Mt. 7,1 - 6)

Im Monat Januar sind mir diese Worte beim Zeitung lesen manchmal in den Sinn gekommen. Die Empörung über die Vergangenheit des Außenministers Joschka Fischer hat mich nicht gleichgültig gelassen. Und der Pflasterstein aus Berlin in meinem Arbeitszimmer, den ich nie geworfen habe, erinnert mich an die Zeiten, als wir als Studenten und Studentinnen gegen Staat und Gesellschaft protestiert haben.

Ein Teil der Jugend ist nicht länger bereit gewesen, an Universitäten und in der Gesellschaft die verkrusteten Verhältnisse hinzunehmen. Erschrocken sind viele über die Konsequenzen der Gewalt auf beiden Seiten, zu Recht; denn Grenzen wurden überschritten, das ist keine Frage.

Zur Biografie jedes Menschen gehört die Auseinandersetzung mit der Zeit, in der er lebt. Und jedem Menschen gestehen wir zu, dass er sich ändert und selbstkritisch zu seiner eigenen Geschichte steht. Mit Offenheit und Deutlichkeit hat Fischer sich als Zeuge in einem Gerichtsverfahren den Fragen gestellt. In Interviews und Talkshows hat er nicht verschwiegen, was er in den 70er Jahren getan hat. Er hat Fehler eingeräumt und Schuld zugegeben. Er hat sich klar geäußert, wie weit er gegangen ist.

Und er hat sich zu recht geweigert für Dinge gerade zu stehen, die andere ihm in die Schuhe schieben wollten.

Trotzdem haben welche versucht ihm Dinge anzuhängen, die nicht seine gewesen sind. Vertreter der Opposition, besonders der Partei mit dem 'C' im Namen, sind nicht bereit anzuerkennen, dass jemand Fehler und Schuld eingestellt. Und dies erinnert mich an das bekannte Jesuswort vom Splitter und vom Balken, das zum Sprichwort geworden ist.

'Eine Riesen-Heuchelei' hat ein Politiker der FDP dieser Tage den Umgang so mancher Politiker und Politikerinnen mit dem Außenminister genannt. Sie besteht darin, dass die alten Fehler des anderen mit Wonne groß geredet werden (oder zumindest wird dies versucht), obgleich sie mit seinem jetzigen Amt nichts zu tun haben. Die eigenen Fehler werden dann unscheinbar klein oder verschwinden ganz.

Die Lust über andere zu richten kennt anscheinend keine Hemmungen und das Wort Jesu über Richtgeist gerät dabei aus dem Blick.

Er wollte sagen, dass wir unter Gottes Recht stehen. Deshalb haben wir nicht zu richten. Uns steht kein letztes Wort zu über einen anderen Menschen. Denn der ist und bleibt unser Bruder, unsere Schwester und wir sind mit ihm verbunden. Wenn wir ihn oder sie verdammen und für seine Taten verurteilen, verurteilen wir uns selbst.

In einer Auslegung der Bergpredigt von Leonhard Ragaz stehen zu dem Jesuswort vom Splitter und vom Balken folgende Sätze:

"Der Vater (Gott) ist auch dein Richter...
Bedenke doch einen Augenblick: Der du so rasch bereit bist, die Fehler und Sünden des Anderen zu sehen - wer bist du denn selbst?
Der du so schnell fertig bist, den Splitter im Auge des Andren zu sehen, siehst du denn den Balken im eigenen Auge nicht?
Willst du vielleicht so eifrig den Splitter aus dem Auge des Anderen ziehen, weil du dir im Stillen doch des Balkens im eigenen bewusst bist? Bedenke, wie sehr, wie gar sehr du selbst Gnade nötig hast, statt Gericht, von Seiten Gottes und von Seiten der Menschen."

(L. Ragaz, Die Bergpredigt Jesu, GTB Siebenstern, 1983, 3. Auflage, Seite 156)

In der Passionszeit grüße ich Sie
Ihr Jürgen Harsch
Pfarrer an der Lukaskirche Ulm