Ulms Westen und "Die soziale Stadt"

Es ist Mittwoch, der 27. Dezember 2000. Gegen 10 Uhr vormittags geht ein einzelner Fußgänger die Wörthstraße in Richtung Weststadthaus entlang. Er bleibt nicht lange allein. Aus den Seitenstraßen kommen, erst einzeln, dann in kleinen Gruppen, schnauzbärtige Männer, bartlose Halbwüchsige und Jungs, begrüßen sich, umarmen sich, tauschen Küsse aus. Frauen und Mädchen sind nicht dabei. Sie alle kommen aus der Moschee in der Stephanstraße. Und: Sie sind fröhlich, lächeln, einige tragen große Tüten mit Süßigkeiten, die sie unterwegs freigebig austeilen. Im Weststadthaus erfährt der Fußgänger: Heute sei der muslimische Fastenmonat Ramadan zu Ende, ein hoher Festtag also, mit dem Beinamen Zuckerfest.

Probleme in der Ulmer Weststadt
Bekannt ist: Der Ausländeranteil in diesem Ulmer Stadtquartier ist sehr hoch. Bekannt ist auch: Der Wohnungsstandard ist niedrig. Beides sind Gründe, warum die Weststadt in das Bund-Länder-Programm Stadt- und Ortsteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - Die soziale Stadt aufgenommen wurde ("unsere WeststadtInformation der Stadt zur Sanierung, September 2000").
Seither laufen nun die Arbeiten zur Durchführung dieses Programms auf vollen Touren. Neuneinhalb Millionen DM sind vom Wirtschaftsministerium zugesagt, als investive Mittel und auch Mittel für die Akzeptanzsteigerung für investive Maßnahmen - so die Bezeichnung auf Planungsdeutsch. Sie sind bestimmt für ein Gebiet von der Größe von rund 40 Hektar und etwa 7.500 Menschen. Ein erstes Etappenziel soll in etwa sieben Jahren erreicht sein.
Um die Verbesserung des Bereichs Jugend, Familie und Soziales, um das soziale Klima, um das Miteinander der Menschen kümmern sich Mitglieder der AG West in der Arbeitsgruppe Quartiersmanagement. In dieser Gruppe arbeiten Angehörige der Weststadt-Kirchengemeinden, ein Sozialarbeiter des Jugendhilfswerks der Caritas und viele andere mit.

Was bereits geschah
Eine weitere Information der Stadt vom Dezember 2000 gibt einen ausführlichen Zwischenstandsbericht. Darin fällt besonders die Vorgehensweise auf: Es wurde erstmals versucht, Bewohner und Hauseigentümer zu beteiligen. An insgesamt fünf Stadtspaziergängen haben sich viele Menschen beteiligt und die Gelegenheit benutzt, Nachbarquartiere kennen zu lernen und im eigenen Quartier zu sagen, wo sie der Schuh drückt und weiche Verbesserungen sie sich wünschen.
Ob auch ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger sich an diesen Erkundungsgängen beteiligt haben, will der Weststadt-Fußgänger wissen. Mitgegangen seien zwar nur wenige, aber wenn eine Wandergruppe vor den Wohnhäusem von Ausländern halt machte, dann hätten vom Fenster aus viele interessiert zugehört und dann auch frank und frei ihre Meinung gesagt.
Auf die Frage, ob auch die Bedürfnisse von Mitgliedern der älteren Generation zur Sprache gekommen seien, erfährt der Frager, dass es vor ein paar Jahren die überdurchschnittlich hohe Jugendkriminalität war, die die Aufmerksamkeit auf die Weststadt gelenkt habe. Aufgrund des Zustandes des Altbaubestands sei es auch fast unmöglich, Altbauten seniorengerecht umzubauen. Die Bedürfnisse Älterer könnten nur über Neubauten befriedigt werden. Ein Beispiel sei in der Sedanstraße bereits verwirklicht.

Was als Nächstes geschieht
Um Probleme mit Jugendlichen wie zuletzt beim Westbad in Zukunft gar nicht erst entstehen zu lassen, wurde als Sofortmaßnahme beschlossen, vier Spielplätze zu verändern, weil viele Jugendliche sich lieber spontan und im Freien treffen wollen als in Häusern mit Einschränkungen durch Hausordnungen und Hausmeister.
Als erster Platz soll die Fläche zwischen Sedanstraße und Westbad hergerichtet werden. Dieser Platz ist zur Zeit Baustelle und die Jugendlichen langweilen sich, weil ihr Treffpunkt blockiert ist. Zur Teilnahme an der Planung dieses Spielplatzes wurden die jungen Leute - deutsche und ausländische, Mädchen und Jungs - ins Weststadthaus eingeladen. Das war für sie ein Aha-Erlebnis der besonderen Art. Sie wurden gefragt, was sie sich denn für ihren Treff wünschten. Spontan kam die kesse Antwort: "Das Paradies!"
Ob sie das vielleicht etwas genauer beschreiben könnten? Und dann kamen nach und nach und mit zunehmendem Mut die Ideen: Ein Dach überm Kopf; eine überdachte Sitzfläche; die Sitze so, dass sie keiner kaputt machen kann, wenn er mal schlechte Laune hat; keine Seitenwände damit keine "Penner" angelockt werden; Beleuchtung; eine Steckdose, damit man auch mal einen Recorder anschließen kann ...

Bis sich wenigstens einige dieser Wünsche erfüllen, hat die Christusgemeinde als Ausweichquartier Räume in ihrem Gemeindehaus zur Verfügung gestellt, wo sich ein Streetworker um sie kümmert, zum Leidwesen der Jugendlichen aber auch nicht jeden Tag.
Auf Mitwirkung der Betroffenen setzt man auch bei den drei anderen Spielplätzen des Sofortmaßnahme-Programms: Im Straßburgweg ist der Club der Körperbehinderten beteiligt, beim Spielplatz Soldatenstraße - er soll mädchengerecht werden - der Mädchen- und Frauentreff Siehste und deutsche und türkische Seniorinnen. Und schließlich soll aus dem Wies'le im Grünen Winkel überhaupt erst einmal ein Spielplatz werden.

Hoffnung
Der Weststadt-Fußgänger meint: Vielleicht führt dieses gemeinsame Tun besser und schneller als die investiven Maßnahmen zu mehr Verständnis zwischen den Menschen: alten und jungen, deutschen und ausländischen. Es wäre im Sinne jener viel zitierten Nachhaltigkeit der Entwicklung, die von deutschen Kirchen jüngst so definiert worden ist: Nachhaltig ist eine Entwicklung, wenn sie von Verantwortung für die Schöpfung und Weitsicht für kommende Generationen geprägt wird.

ep