Vom Ewigen und vom Wandel
Beobachtungen und Erfahrungen zur Visitation in Ulm

Runde acht Wochen haben wir uns in Ulm Zeit genommen für die Visitation des Kirchenbezirks und der Dekansgemeinde. Obwohl ich als gebürtiger Ulmer, der vor fünf Jahren wieder in seine Heimatstadt zurückkehrte, vieles schon zu wissen glaubte, machte ich eindrückliche und auch zum Teil neue Erfahrungen.

Gerhard Maier

Ganz überraschend waren für mich das Vertrauen und die Erwartungen, die der Kirche entgegengebracht werden. Ob im Rathaus oder in der Schule, ob bei Polizei oder Justiz, ob bei Einzelpersonen oder bei Gruppen: Die Kirche genießt ein erstaunliches Vertrauen. Da man immer wieder liest, die Kirche sei in der Werteskala nach unten gerutscht oder werde zunehmend misstrauisch beobachtet, war dies für mich eine erstaunliche Beobachtung.

Überraschend war für mich auch die Einhelligkeit der Erwartungen, die an die Kirche heran getragen werden. Bei einer Behörde wurde dies auf den klassischen Dreiklang gebracht:

  1. die Kirche soll ihren Standpunkt eindeutig vertreten,
  2. sie soll mehr Hausbesuche machen,
  3. sie soll in ethischen Fragen der Gesellschaft Hilfestellung geben.

Da jeder dieser Punkte berechtigt ist, müssen wir ihnen nachgehen. Sicher sind viele Pfarrerinnen und Pfarrer überlastet. Dennoch muss unsere Zeit so geplant werden, dass wir für Besuche Möglichkeiten finden. Gesucht wird persönliche Nähe. Nur wo wir Beziehungen aufgebaut haben, kommen die Menschen zum Gottesdienst und werden sie dazu bereit, selbst irgendwo mitzumachen. Persönliche Nähe: Nur dadurch hat die Kirche die Chance, lebendig zu bleiben.

Hoch bewertet wird der Religions-Unterricht, der in den Schulen erteilt wird. In der Kirche bin ich es gewohnt, dass über Unterrichtsverpflichtungen oft gestöhnt wird. Aber in den Schulen selbst ist es gar keine Frage, dass man diesem Fach viel zutraut. Man erwartet von ihm das Erlernen menschlicher, sozialer und ethischer Kompetenzen, mehr noch: das Aufzeigen eines Weges, wie man zu einem begründeten Glauben kommt. Überraschend war für mich, wie stark der Wunsch nach einer Schulseelsorge zum Ausdruck gebracht wurde. Außerdem wurde erneut spürbar, dass der Religionsunterricht an Berufsschulen leider nicht die genügende Aufmerksamkeit der Kirche findet.

Das Potential an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist in der Kirche immer noch viel größer, als es in anderen gesellschaftlichen Einrichtungen und Gruppen ist. Wir betrachten es leider als eine gewisse Selbstverständlichkeit. Allerdings wünschen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass man ihre Anliegen ernst nimmt. Auch sie brauchen persönliche Nähe und Begleitung. Ein alter schwäbischer Grundsatz lautet: Wenn man zu jemand nichts sagt, dann gilt das als Lob für den Betreffenden. Gesagt wird nur das, was man zu kritisieren hat. Aber das ist zu wenig. Wir sollten besser nach dem anderen Grundsatz handeln: "Hast du heute deinen Mitarbeiter/deine Mitarbeiterin schon gelobt?"

In unseren großstädtischen Strukturen brauchen wir Untergliederungen, Kristallisationspunkte kirchlichen Lebens. Konkret gesagt: Wir brauchen Hauskreise. Dass die in Ulm so selten sind, hat mich verwundert. In den Marschen und am Rande der Nordsee pflanzt man Gräser, damit Boden entsteht und Boden gewonnen wird. Ahnlich wirken die Hauskreise in einer Stadt. Dem sollten wir mehr Aufmerksamkeit schenken.

Deutlich wurde im Verlauf der Visitation auch die Verbundenheit, die zwischen den Kirchen rechts und links der Donau über die Flussgrenze hinweg besteht. Man fühlt sich verantwortlich für ein Miteinander und möchte den eigenen Horizont nicht mit der Kirchenbezirksgrenze enden lassen. Persönlich bin ich dankbar für alle Formen des Zusammenwirkens, nicht zuletzt in Gestalt der brücke'. Hier lässt sich noch manches entwickeln.

Schließen möchte ich mit dem Blick auf die zahlreichen Chancen, die uns Gott in dieser Zeit eröffnet. Die Zeit, in der wir leben, ist ja keineswegs eine religionslose Zeit. Den Menschen wird zunehmend bewusst, dass die Machbarkeit ihre Grenzen hat, dass es große und entscheidende Bereiche des Lebens gibt, die der Verfügung des Menschen entzogen sind. Steigend und dringlich wird gefragt: Was ist der Sinn unseres Lebens? Bleibt alles dem schnellen Wandel unterworfen, oder gibt es Bleibendes und Ewiges? Was wird morgen sein und wer bestimmt über das Morgen? Hier hat der christliche Glaube eine Antwort. Er findet in Jesus die Brücke zur Gemeinschaft mit Gott und dem Ewigen. Mein Wunsch ist es, dass wir selbst noch tiefer von diesem Glauben durchdrungen werden und dass wir ihn als Überzeugte auch überzeugend an andere weitergeben können.

Dr. Gerhard Maier
Prälat in Ulm

Bild: privat