"Fröhlicher Wechsel" -
eine Beobachtung bei Johann Sebastian Bach

Vielleicht verhält es sich mit Bach - man verzeihe den Vergleich - nicht viel anders als mit allen Versuchen, das Leben Jesu zu beschreiben. Denn, wie Albert Schweitzer gezeigt hat, sagen sie mehr über den jeweiligen Biographen, als über ihren Gegenstand.
Deswegen nun ehrlicherweise "mein" Bach, als Randbemerkung zum Jubiläumsjahr.
Ich begegne ihm als klavierspielender Laie, dem es zu den alpinen Touren ins wohltemperierte Klavier nur sehr auszugsweise reicht, immer wieder im Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, Sebastians zweiter Frau.
Ist Ihnen schon aufgefallen, dass am Ende dieser Sammlung von Arien, Suiten und Tänzlein der gravitätische Choral "Ewigkeit, du Donnerwort" steht, also ein unübersehbarer Fingerzeig auf den Ernst der letzten Dinge, auf unsere letzte Verantwortung einschüchternd, nicht ohne fragwürdige Pädagogik der Angst, vergleichbar mit dem Weltgerichtsfresko über dem Chorbogen unseres Münsters:

0 Ewigkeit du Donnerwort!
0 Schwert, das durch die Seele bohrt,
0 Anfang sonder Ende!
0 Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,
ich weiß vor großer Traurigkeit
nicht wo ich mich hinwende!
Mein ganz erschrocknes Herz erbebt,
daß mir die Zung am Gaumen klebt.

Dem folgt nun aber als "Allerletztes" ein entzückendes, kleines Liebes- und Hochzeitsgedicht, das ganz unbekümmert sogar mit kaum verhohlener Erotik der ernsten Bundeslade des Chorals hinterher tanzt:

Cupido, der vertraute Schalk
läßt keinen ungeschoren,
zum Bauen braucht man Stein und Kalk,
die Löcher muß man bohren,
und baut man nur ein Hennin-Haus,
gebraucht man Holz und Nägel,
der Bauer drischt den Weizen aus
mit groß und kleinem Flegel.

In der Tat eine harte Fügung, ein "Kontrapunkt", eine Engführung mit größter Spannung.
"Einheit der Gegensätze", ausgehaltene Paradoxien, das ist es, was mir immer wieder bei Bach auffällt, dem Hofkapellmeister und Thomaskantor, dem "widerborstigen Untertan" (Walter Korft), dem so strengen Lutheraner wie mystisch Interessierten; dem, der um das "ich habe genug" wusste und der zugleich feiern konnte und sich auch einmal als Organist eine langweilige Predigt im Weinkeller um die Ohren schlug.
Beim Doppelschluss des Notenbüchleins fallen einem Theologen natürlich auch die harten Fügungen in der Bibel ein.
Tanzt da nicht ganz ähnlich das Liebesgedicht des Hohelieds hinter dem Ernst der Spruchweisheit des Predigers her, der mit seinem "alles ist eitel" alle Illusionen und Lebenslügen enttäuscht?
Auch hier - auf biblischem Grund - leichteste Grazie neben unerbittlichem Ernst! Was geschieht (uns) hier? Wird allem falschen Ernst, allem ideologischen oft auch scheinbar frommen Missbrauch der letzten Instanz mit (göttlichem!) Recht auf der ernsten Nase herum getanzt? Ist es ein notwendiger, heilsamer Hinweis darauf, dass wir über den letzten Dingen, auch über unseren Ideen und Idealen, Plänen und Programmen, das Vorletzte nicht versäumen sollen, das Naheliegende, das Leibhaftige, das Gegenwärtige - was dem Leipziger Kantor wichtig war: Frau, Kind, Freundschaft, geselliges Leben, Brot und Wein?

Oder auch dies:
Dass alles "Himmel-hoch-Jauchzende" oft in härtestem Kontrapunkt mit dem "Zu-Tode-betrübt" zusammen gefügt wird, dass das Leben vom Tod umfangen, aber genauso mit noch größerer österlicher Gültigkeit der Tod vom Leben umschlungen, um nicht zu sagen auf Hoffnung verschlungen ist?
Dass der Tod allemal im Topf ist, dass der erste Schrei eines neuen Erden- und Himmelsbürgers der letzte der geliebten Frau sein kann.
Aber eben auch, und noch viel mehr, dies andere: Gehört nicht neben unverhohlenem Sarkasmus auch mindestens eine Spur österlicher Humor dazu, wenn ein Kantor darüber klagt, dass allzu gute Witterung im Bestattungswesen zu Verdienstausfällen führte.
Oder, nun wirklich österlich: Ein Jahr nach dem Tode von Maria Barbara wurde im Hause Bach erneut gefreit, nicht nur, um die Kinder versorgt zu wissen. Da fragte einer nicht danach, ob es schicklich sei, vielmehr sah er sie als Geschick, als Geschenk vom höheren Chor, die junge Konzertsängerin Anna Magdalena Wilken, die ihm an jenem Morgen erschien, der für ihn noch die ganze Kälte des Karfreitags atmete.
Harte Fügungen, gewiss.
Aber auch sie, vielleicht gerade sie, machen die Musik, zumal die Musik eines J. S. Bach.
Wie hielt er sie aus, diese Spannungen?
Und, noch wichtiger, wie hielt er die Gegensätze aus-einander, die ich oft gerne entspanne in falscher Wohltemperiertheit, in lauem, verharmlosendem unteilnehmendem "na, ja" und allzeit misstrauischem "ja, aber".
Ob ihm seine Christusmystik half, seine innige Verbundenheit mit demjenigen, der die Gottseligkeit in excelsis genauso durchfuhr und erfuhr, wie die Reiche des Todes und der Hölle, um aus beiden heraus Mensch zu werden:
"er reiset durch die Höll, ich bin stets sein Gesell."
Gerade Paul Gerhardt, eine ebenso paradoxe Persönlichkeit, mystischer Sänger der einen Christenheit und zugleich enger Lutheraner und "Reformiertenfresser", scheint ihm des öfteren aus dem Herzen gesprochen zu haben - so dass es, und dies schließt meine persönliche Hommage, zu jener Sternstunde gekommen ist, der wir eine der kongenialsten Choralvertonungen verdanken:

"ich steh an deiner Krippen hier,
o Jesu, du mein Leben,
ich komm und bring und schenke dir
was du mir hast gegeben".

Kein "Donnerwort", aber durchaus "Ewigkeit", mitten in der Zeit.
Kein "Schwert, das Leib und Seel durchbohrt", aber freudigste Erschütterung bis in den tiefsten Seelenabgrund: "0 daß mein Sinn ein Abgrund wär..."
Tiefste (Todes)Nacht, Nacht aller Nächte, aber zugleich "Sonne" der Christnacht, besser des Ostertags:
"du sollst ja guter Dinge sein".
Da tritt einer abdankend, wenn ihm die letzten Fugenkünste zerbrechen, vor den Thron, einen Thron, der zur Krippe geworden ist, vor den Meister aller Meister, und es erscheint ihm nicht der Richter, sondern das Kind: "ich bin dein Freund".
Fröhlicher Wechsel (Luther), in der Tat!
Und am Ende, ganz am Ende auch etwas hoch-zeitliches, etwas, das entfernt sogar noch an das Gedicht im Notenbüchlein gemahnt und das man etwas verlegen Brautmystik nennt. Es leuchtet bei Bach immer wieder auf, auch in den Kantaten:

Eins aber, hoff ich, wirst du mir,
mein Heiland, nicht versagen:
daß ich dich möge für und für
in, bei und an mir tragen.
So laß mich doch dein Kripplein sein;
komm, komm und lege bei mir ein
dich und all deine Freuden.

Adelbert Schloz-Dürr, Pfarrer in Ulm