Warum hast du dich daneben gemalt? (Lukas 17,21)
"VON STOLPERNDEN ENGELN, HARTNÄCKIGEN ZWEIFLERN UND MUTIGEN KINDERN" (rex verlag luzern 2000)

"Doofe Ziege", schrie Bernd, als er voller Wut die Treppe hochrannte. In seinem Zimmer schloss er die Tür hinter sich zu. Aber seine Wut hatte nun auch kein Gegenüber mehr. "Doofe Ziege", schrie er und hämmerte mit seinen Fäusten gegen die Tür des Kleiderschrankes. Schließlich warf er sich auf sein Bett. So war das fast immer: Kleiner Pimpf, so hatte sie ihn genannt. Nur weil sie beim Saga-Land-Spielen verloren hatte. Sie konnte es nicht vertragen, wenn sie gegen ihn, den zwei Jahre jüngeren Bruder, verlor. Kleiner Pimpf! Dabei hatte es Vater ausdrücklich verboten, ihn so zu rufen. Aber Vater war ja nicht da. Kleiner Pimpf, so riefen sie auch auf dem Schulhof hinter ihm her, nur weil er der Kleinste der Klasse war. Aber rechnen konnte er gut, und das ärgerte die anderen.

Mit einem Mal kam alles wieder hoch. Warum musste ausgerechnet er der Kleinste sein? Warum nicht Thorsten oder Joachim oder Andreas? Bernd war den Tränen nahe. Was half da der Rat seines Vaters, den er ihm sogar mit großen bunten Buchstaben an die Tür geklebt hatte: "Selbstmitleid ist das schlimmste Leid und das dümmste zugleich."

Was hatte sein Vater schon für eine Ahnung?! Plötzlich sprang Bernd auf und stellte sich an die Messlatte, die er an die Schrankwand geklebt hatte. 103 cm ist ja nun wirklich Pimpfengröße für einen Elfjährigen. Und gewachsen war er in dieser Woche auch wieder nicht. "Nanu", sagte Bernd plötzlich. "Wo kommst denn du her?" Ein kleiner Marienkäfer krabbelte seinen Arm hoch. Bernd drehte den Arm um, so dass nun die Hand nach oben zeigte. Der Käfer stand einen Augenblick still, drehte sich dann um und krabbelte nach oben. Woher weiß der winzig kleine Kerl, wo oben und unten ist?, fragte sich Bernd. Es kitzelte ein wenig, als der Marienkäfer den Mittelfinger hochkrabbelte. Oben angekommen, pumpte er sich voll Luft und entfaltete seine Flügel, wollte starten und fiel auf den Teppich. Die zarten Flügel schauten noch unter den rotgepunkteten Deckflügeln hervor. Bernd reichte ihm seine Hand und dankbar kletterte der Käfer auf den Zeigefinger. Diesmal klappte der Start und Bernd staunte, wie der winzige Käfer genau auf das Dachfenster zuflog und draußen verschwand.

Bernd und der Marienkäfer

Das musste er morgen unbedingt Gisela erzählen. Gisela war seine Freundin. Sie war etwas größer als Bernd - aber doppelt so dick. Sie wurde deswegen oft ausgelacht.

"Weißt du", hatte ihm Gisela einmal gesagt, "ich esse weniger als meine Schwester und werde doch immer dicker."

Gisela kam gerade von der Flötenstunde nach Hause. Sie blieb stehen und bückte sich. Nein, sie hatte kein Geldstück gefunden. Sie hatte vielmehr eine Pflanze entdeckt, die durch den Asphalt hindurchgewachsen war. Gisela befühlte die Blattspitzen der Pflanze.

Aber die waren nicht hart und spitz wie Eisenspeere. Wie konnte eine so zarte Pflanze durch einen so harten Straßenbelag wachsen? Gisela staunte. Die kleine Pflanze ist stärker, sagte sie sich, irgendwie macht mich dieser Gedanke froh. Das musste sie unbedingt Bernd erzählen.

In der Religionsstunde am übernächsten Morgen erzählte die Lehrerin Frau Herkenrad von Jesus: "Eines Tages", so sagte Frau Herkenrad, "ist Jesus vor einer Blume stehen geblieben und hat den Menschen durch die Blume von Gott erzählt: Schaut alle her. Seht diese wunderschöne Farbe und riecht den süßen Duft." Frau Herkenrad hielt eine Heckenrose in den Händen. "Wenn Gott die Blumen so schön kleidet, dann könnt ihr sicher sein - euch Menschen vergisst er erst recht nicht. Weil er die kleinen Dinge liebt, weiß ich, er liebt auch mich. Und nun", sagt die Lehrerin, "malt ein kleines Ding, das Gott liebt."

Bernd blinzelte Gisela zu, und sie ihm. Jeder wusste vom anderen, was sie/er malen würde. Gisela malte ihre Pflanze, Bernd malte den Marienkäfer und daneben sich selbst. Sie sollten nun ihr Bild mit ihrem Nachbarn in der Schulbank besprechen und einer dem anderen/eine der anderen erklären. Weil Bernd allein in der Bank saß, bat ihn die Lehrerin, sich neben Peter zu setzen, der auch allein saß, weil sein Nachbar krank war. Peter war derjenige, der sich am meisten über Bernd lustig machte, weil Bernd so klein war. "Und warum hast du dich daneben gemalt?", fragte Peter. Bernd schaute ihn erstaunt an: "Weil ich auch der Kleinste bin", sagte er dann. Peter hatte einen Kieselstein gemalt. Er war auf einmal ganz still, fast nachdenklich. Dann kramte er aus seiner Tasche ein Bonbon heraus, streckte es Bernd hin und sagte: "Da, für dich."
Das sollte wohl so etwas heißen wie: Ich hör auf, dich Pimpf zu nennen, dachte sich Bernd.

Am Schluss der Stunde, es hatte schon geklingelt, ging Gisela schnell zu Bernd hin und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Bernd wurde ein wenig verlegen, aber seine braunen Augen strahlten. "Gott hat dich ganz fest lieb und ich dich auch", hatte ihm Gisela ins Ohr geflüstert.

Am Abend erzählte sein Vater der Mutter beim Abendessen von der Versammlung der Christen, von der er gerade kam. In vielen Sprachen sei gesprochen worden. Er habe den spanischsprechenden Redner übersetzen müssen. Der habe gesagt: "Das Reich Gottes beginnt da, wo Menschen einander gerecht werden, wo sie in Frieden leben und die Schöpfung Gottes behüten wie einen wunderschönen Garten."

Als Bernd in seinem Bett lag, konnte er lange nicht einschlafen. Reich Gottes, schon oft hatte er in der Kirche davon gehört. Er stellte sich das Reich Gottes immer vor, wie ein großes Königreich, mit Gott auf einem wunderschönen Thron. Irgendwo weit weg. Wenn das, was Vater gesagt hat, stimmt, dann ist das Reich Gottes ja ganz nah! Dann entsteht das Reich Gottes da, wo Menschen einander Gutes tun, wo Menschen nicht mehr aufeinander schießen und sich nicht mehr bekriegen.
Mit diesen Gedanken, die so neu waren und die er noch lange nicht ganz verstanden hatte, schlief Bernd ein. Am nächsten Morgen ging er zuerst zu seinem kleinen Garten.
O Schreck, die Schnecken hatten seine Sonnenblumen ratzeputz abgefressen. Warum gibt es so viele Schnecken, fragte sich Bernd. Warum hat der liebe Gott so viele Schnecken entstehen lassen, die doch alle schönen Blumen abfressen? Diese Frage wollte er in der kommenden Woche der Religionsiehrerin stellen.

Helmut Herberg, Klinikpfarrer in Ulm

Bild: Anne Friederike Weyh