Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! Warum bist du fern meinem Schreien und Klagen, meinem Aufschreien, meiner Sprachlosigkeit! Mein Gott! Ich schreie, wenn es hell ist, und du hörst mich nicht, wenn es dunkel ist, und du antwortest mir nicht. (Der Anfang des 22. Psalms, aus: "Die Menschen lügen. Alle"; übertragen von Arnold Stadler. Frankfurt, Leipzig 1 999).
Erzwungene Stummheit
Diese Verse aus dem Leidenspsalm Jesu drücken für mich das aus, was in dem Gesicht im Zentrum der Zeichnung des Neu-Ulmer Künstlers Waldemar Müller vorgeht: Der geöffnete Mund scheint einen Schrei ausstoßen zu wollen. Aber er wird daran gehindert durch ein Netz aus Schnüren (eine Spinnwebe? - ein Beziehungsgeflecht?), das drei Menschen festzurren an den Nägeln, die sie mit wuchtigen Hämmern ins Gesicht eingeschlagen oder hinein gebohrt haben.
"Ich schreie, aber keiner hört mich. Ich will etwas sagen, aber keiner versteht mich." - Der Schmerz über die erzwungene Stummheit fließt als Tränen aus einem Auge, entlang der Wurzeln einer Birke, die zugleich Nase und Augenbraue des Gesichtes bildet. Die Augen! Die Pupillen spiegeln Münzgeld: links eine russische Kopeke, rechts eine deutsche Mark. Wird dieser zum verstummen gebrachte Kopf nun auch noch gezwungen, nur noch Geld im Auge zu haben?
Wer bin ich denn noch?
Waldemar Müller, selbst Aussiedler, versuchte in dieser 1996 entstandenen Zeichnung die Gefährdungen aufzuarbeiten, die ihn, den Neuankömmling aus Kasachstan, bedrängten: die Konfrontation mit einem neuen System, mit einer schwierigen deutschen Sprache, die so anders war als das Deutsch, das die Eltern in Kasachstan gesprochen hatten; die Sehnsucht verstanden zu
werden, das Erleben der eigenen Sprachlosigkeit und das damit verbundene Gefühl der Isolation - und die Frage: Wer bin ich? Wer bin ich denn doch? (Antwort: Ein Sozialhilfeempfänger, ein Arbeitsuchender, ein Niemand ...
Vorher - Nachher
Wir erfahren sehr viel aus diesem Bild über den, der sich hinter dem gequälten Gesicht verbirgt. Das Gesicht teilt das Bild in zwei Hälften, in "Vorher" und "Nachher": Rechts - eine Erinnerung an die Heimat in Kasachstan, ein geliebtes Stück Natur, irgendwo draußen vor der Stadt: ein Flüsschen, Wiesen, Laubwald, in der Ferne die Berge. Am Ufer liegt im Gras ein Mann, die Arme weit ausgebreitet, eins mit sich und der weit.
Links - scheint keine Sonne mehr, aus dem Flüsschen ist eine Straße geworden. Düsternis herrscht zwischen Betonbauten. Der vordere Bau muß ein Übergangswohnheim für Aussiedler
sein, in dem gerade eine Polizei-Razzia stattfindet. "Bier" steht an einem der oberen Fenster geschrieben. Ein Hinweis, dass in diesem Zimmer getrunken wird?
Der Blick fällt wieder auf die Menschen vor dem Wohnheim auf der Straße, die damit beschäftigt sind, das Gesicht in der Mitte "mundtot" zu machen. Wer sind diese Leute? Es sind wohl die, die den Schrei, die Warnung vielleicht, um keinen Preis hören wollen.
Geldscheine fliegen herum. Daneben liegen als Müll Getränkedosen und Flaschen. Ein Mercedes parkt da, sein "Stern" - Symbol für den Traum vom Leben im Wohlstand..
Und jetzt hören wir, was der in der Mitte hinausschreien möchte: "Ich bin das nicht!" - - -
Lebensenergie
Rechts neben seinem Gesicht brennt eine Kerze herunter.
Nicht zum Licht-, nicht zum Wärmespenden scheint sie dazustehen, sondern um auf das Vergehen der Lebenszeit hinzuweisen. Der Mensch in der Mitte steht unter Zeitdruck. Er will etwas sagen, ausdrucken, erreichen, doch sein Schrei bleibt stumm. Trotzdem meinen wir etwas hören zu können. Das ganze Bild strotzt von einer ungeheuren Lebensenergie, beschwört starke Gefühle herauf: schöne Erinnerungen, trostlose Zukunftsvisionen, Angst... Mir fällt auf, das große Gesicht mit dem Schrei-Mund und den GeldAugen hat keine Ohren - oder doch ? Da, wo rechts ein Ohr sein könnte, sehen wir die geöffnete Türe einer kleinen russischen Holzkirche, auf die drei Menschen zustreben. Rubelscheine flattern vor der Kirche, verdecken sie. Die Kirche selbst wächst in das Gesicht hinein, wird Teil des Gesichtes, Teil der Identität.
Kirchen-Ohr
Dieses Kirchen-Ohr könnte eine Hoffnung sein. Hören wir - als Kirche - die stummen Schreie derer, die sprachlos sind ?
Sie wohnen bei uns ums Eck!
Marion Abendroth
Pfarrerin für Aussiedlerseelsorge,
Neu-Ulm