Der Herr ist mein Hirte
Fünfte Ulmer Vesperkirche
Vesperkirche

"Wenn das Gotteshaus zum Gasthaus wird", so lautete im Januar 1996 die Überschrift in der brücke' über dem Projekt eines erstmaligen Angebots: der Vesperkirche in den Räumen der Pauluskirche.

Anfangs war es ein Experiment, in der übersichtlichen Großstadt Ulm etwas zu wagen, das es in Stuttgart schon gab: Einen Monat lang eine Kirche zur "Armenspeisung" zu öffnen. Ein Experiment, denn kennt hier in Ulm nicht jeder jede? Wer wagt es da schon aus dem Schatten der Anonymität herauszutreten und seine Armut zuzugeben ... Wie gut die Vesperkirche angenommen wurde, zeigen seitdem die kontinuierlich gestiegenen Besucherzahlen der vergangenen Jahre. Waren es am Ende der ersten Aktion durchschnittlich 180 Menschen pro Tag, die zum Essen kamen, so strömten in den vergangenen beiden Jahren manchmal bis zu 400 Menschen in die Pauluskirche und füllten sie oft bis auf den letzten Platz.

Einen Monat lang Tag für Tag "Für ein paar Stunden Urlaub von Überlebensstress und Not - eine warme Mahlzeit und Begegnung in festlicher Atmosphäre", diese einladenden Worte lokken mitten im Winter immer mehr Menschen in die Räume der Pauluskirche, die sich im Februar in eine "Vesperkirche" wandelt.
Bei "Vesper" denken wir im Schwäbischen zuerst einmal an eine deftige Mahlzeit, aber"Vesper" ist auch das Stundengebet im Kloster. So wird in der Vesperkirche ein Gottesdienst ganz besonderer Art gefeiert, in dem Menschen unterschiedlichster Herkunft miteinander essen, einander an ihrem Leben teilhaben lassen, einander ermutigen und Gottes Segen weiterge- ben.
Wie schon zur ersten Vesperkirche sind immer noch ganz besonders die Menschen eingeladen, die zur Zeit ohne Wohnung irgendwo und irgendwie (über-) leben, aber auch die Familien und allein Erziehenden mit ihren Kindern oder alte Menschen mit kleiner Rente, kurz alle, die sich nicht jeden Mittag ein warmes abwechslungsreiches Essen leisten können.

Vesperkirche

Die besondere Atmosphäre wird aber auch dadurch geprägt, dass die, die eher auf der Sonnenseite des Lebens stehen, genauso zu den Gästen gehören. So setzen sich Menschen, deren Leben kaum unterschiedlicher sein könnte, an einen Tisch.
Nicht zu vergessen die Hunde, deren Gebell sich von Zeit zu Zeit mit dem fröhlichen Lachen spielender Kinder und dem gleichmäßigen Geräuschpegel der angeregten Gespräche an den Tischen ver- bindet.
Wer es sich leisten kann, zahlt 7 DM, die anderen 2,50 DM für Essen, kalte Getränke und Kaffee so viel man will. Ein Vesperpäckchen für den Abend kann man für weitere 0,50 DM erwerben.

Natürlich gibt es Menschen, die sich an diesem Gewimmel, an den Geräuschen und Gerüchen und an den allzu "weltlichen" Tätigkeiten wie Haare schneiden oder Karten spielen im heiligen Kirchenraum stören. Betrunkene, Hunde, schreiende Kinder in der Kirche, da fühlen sich manche in ihren Gefühlen verletzt.
Andere werden an das "Gottesreich" erinnert, so bunt gemischt ist die Schar derer, die kommen: mit lrokesenhaarschnitt oder zerlumpter Kleidung, die Ratte auf der Schulter, das Kleinkind im Arm oder den Stock in der Hand.

Einen Monat vor der ersten Vesperkirche waren rund 40 Frauen und Männer zu Mitarbeit gefunden, heute betreut die Aktion ein Team von mehr als 100 Personen unterschiedlichster kirchlicher Herkunft. Manche nehmen sich Urlaub um dabei sein zu können, viele genießen den Einsatz als eine sinnerfüllte Zeit im Jahr, einige waren anfangs Gäste und sind heute Mitarbeiter.

"Der Herr ist mein Hirte", lautet das biblische Motto der fünften Ulmer Vesperkirche. Damit werden Hoffnung, Geborgenheit und Vertrauen ausgedrückt. Gott will uns geben, was wir brauchen und uns mit Essen, Trinken, Liebe und einem Zuhause versorgen. Zeichenhaft soll das in diesen vier Wochen Wirklichkeit werden, um das Selbstvertrauen und den Willen zu stärken, Armut nicht als unvermeidbar hinzunehmen.

cw

Bilder: privat