Ein zusätzlicher Tag

Seit der Kalenderreform von Julius Caesar um das Jahr 46 v.Chr. wird das Jahr in 365 Tage eingeteilt. Jedoch dauert das Jahr tatsächlich etwa 365,24 Tage. So wird alle vier Jahre ein zusätzlicher Tag, der sogenannte Schalttag, hinzugefügt.
Die von Papst Gregor XIII. durchgeführte Kalenderreform im Jahre 1582 brachte noch mehr Genauigkeit in den Kalender: Die Schalttage in vollen Jahrhunderten fallen aus. Jedoch nicht in den Jahrhunderten, die durch 400 teilbar sind, darum auch nicht im Jahre 2000.
Ich sehe im Kalender nach: Der 29. Februar ist ein Dienstag - der Tag, den es nur ausnahmsweise gibt. Seit der gregorianischen Reform immerhin erst das vierte Mal. Schon was Besonderes, dieser Tag! Gewissermaßen ein zusätzlicher Tag.

" ... keine Zeit!!!"
Für mich, wie für die meisten Leute, die zur Arbeit gehen, wird dieser Tag ein ganz normaler Werktag sein. Aller Voraussicht nach stehen die derzeit regelmäßigen Dienstags-Termine auch an jenem Dienstag an. Dieser Dienstag ist, wie viele andere Tage, schon jetzt verplant, zumindest teilweise. Und ich vermute, wenn jener bewusste Dienstag da ist, wird es mir gar nicht so vorkommen, als hätte ich zusätzliche Zeit.
Wenn wir von Zeit reden, dann oft davon, dass wir keine haben. Wir stehen unter Zeitdruck. Wir haben Termine, wir dürfen nicht zu viel Zeit brauchen, wir müssen Zeit aufholen. Zeit ist Geld und wer nicht kommt zur rechten Zeit ...
Zeit muss sinnvoll verwendet werden: um eine Aufgabe zu erledigen oder um schöne Stunden zu erleben. Zeit, die nicht zweckbestimmt und zielgerichtet verbracht wird, empfinden wir oft als vertane oder uns gestohlene Zeit: langes Warten im Wartezimmer des Arztes, wenn der Zug Verspätung hat, wenn jemand die Verabredung nicht einhält ... Und Langeweile macht uns unglücklich oder missmutig, weil Zeit vergeht, ohne dass sie zu etwas nützlich ist.

Und der Sonntag?
Ich gehöre, wie viele andere, nicht zu den Menschen, die jeden Sonntag arbeitsfrei haben, trotzdem nehme ich den Sonntag ein Stück weit als Zeit für mich' wahr. Was nicht unbedingt getan werden muss, kann warten. Manches muss warten, weil auch andere Pause machen dürfen. Ich kann einen Sonntag im Rahmen meiner Möglichkeiten bewusst gestalten, mir überlegen, was ich mit diesem Tag anfangen könnte: ganz spät aufstehen oder ganz früh, zuhause bleiben oder rausgehen, mit den Menschen, die mir nahe sind, eine gemeinsame Zeit oder Unternehmung planen oder mit den Lieben Zeit aushandeln - für mich ganz alleine, ohne die Lieben.
Vielleicht tue ich aber am Sonntag gar nichts von dem, was ich mir vorgenommen habe und das wäre gar nicht schlimm. Oder ich fange etwas ganz anderes an, weil es nun eben etwas anderes ist, das mir und den Menschen um mich herum entspricht, gut tut, Freude macht.
Vielleicht hätte ich auch Langeweile an jenem Sonntag. Ob das so schlecht wäre? Wenn ich nichts zu tun wüsste, dann wären mir der Kopf und die Hände möglicherweise so frei, dass mir was ganz Neues einfiele.
Beim Nachdenken über jenen besonderen Dienstag, 29. Februar 2000, ahne ich, welch große Chance jeder Sonntag für uns ist. Wir würden viel verlieren, wäre jeder Sonntag ein Werktag.

Geschenkte Zeit
Was mache ich nun aber mit dem Dienstag, 29. Februar 2000?
Ich streiche mir ihn mal - auch wenn's kein Sonntag ist - im Kalender an und schreibe: geschenkte Zeit. Vielleicht denke ich an diesem ganz normalen Tag ein wenig mehr als sonst daran, dass jede Stunde meines Lebens und alle meine Zeit Gottes Geschenk ist - die Zeit ohne besondere Ereignisse, die gut genutzte Zeit, die vertane Zeit, die mir gestohlene Zeit. So nehme ich Zeit nicht nur als 'Zeit für ...' wahr, sondern auch als 'Zeit von ...'.
Jenseits dessen, was ich aus meiner und der Zeit Anderer mache, sie hat in den Augen Gottes immer eine ganz bestimmte Qualität: Gesegnet ist sie und kann und soll ein Segen werden.
Was das konkret heißt ?
Wie wäre es, wir wendeten etwas von unserer Zeit dafür auf, darüber nachzudenken und etwas davon sinnenfällig und handgreiflich werden zu lassen, dass unsere Zeit 'Zeit von Gott' ist?
Keine Zeit ist gottlos. Jeder Sonntag erinnert uns neu daran.
Lassen Sie sich in diesem Sinne doch den Dienstag, 29. Februar 2000, zum Geschenk machen!

Doris Seitz-Kernen, Pfarrerin in Ulm

Gib uns Zeit, Gott,

zum Sinnen und Grübeln,
denn wir brauchen die anderen, die besseren Gedanken
müssen dann und wann von der Oberfläche verschwinden
und in uns gehen.

Gib uns Zeit, Gott, gib uns Zeit:
zum Grämen und Grollen,
denn wir brauchen die leisen Klagen und die laute Wut,
müssen dann und wann auftauchen
und außer uns geraten.

Gib uns Zeit, Gott, gib uns Zeit:
zum Wägen und Wagen,
denn wir brauchen die überprüften Worte
und die dreisten Schritte,
müssen dann und wann
unsere Vorsicht aufgeben
und dann und wann umsichtig sein.

Gib uns Zeit, Gott, gib uns Zeit:
zum Schwärmen und zum Schweigen,
denn wir brauchen den Luftsprung und wohl auch die Stille,
müssen dann und wann uns loslassen
und auch in uns versinken.

Gib uns Zeit, Gott, gib uns Zeit:
zum Beten und Bereden,
denn wir brauchen das Gespräch unseres Herzens mit dir,
das herzhafte und herzliche Gespräch mit den anderen,
müssen dann und wann allein nur in dir sein,
unsere Worte mit den Nächsten teilen.

Gib uns Zeit, Gott, gib uns Zeit,
gute Zeit aus deinen Händen.

Dieter Schupp, in:
Gottesdienstpraxis Serie A, V/2 hrsg. von E. Domay, Gütersloh 1989